Aus dem Arbeitsalltag
«Ein positives Weltbild hilft, Herausforderungen zu überwinden»
Mario Clavadetscher hat eine aussergewöhnliche Funktion in der Langzeitpflege. Mit seiner Ausbildung im psychiatrischen Bereich hat er oft keinen direkten körperlichen Kontakt mit Klientinnen und Klienten – seinen Zugang zu ihnen findet er über Worte und Zuhören.
Ich musste herausfinden, was ich wirklich will. Nach vielen Schnupperlehren als Koch oder Schreiner hat mir immer etwas gefehlt, nämlich der direkte, länger währende Kontakt mit dem Menschen. 2005 begann ich ein Praktikum in der psychiatrischen Klinik in Chur. Das gefiel mir, weshalb ich danach bis 2009 die DN-II-Ausbildung zum Pflegefachmann HF Schwerpunkt Psychiatrie absolviert habe. Im Gegensatz zu heute benötigte man damals noch keine Vorbildung in Form eines EFZ. Nach dieser Ausbildung blieb ich auf einer halboffenen Akutstation und machte Nachtwache und absolvierte vier Jahre in einem Wohnheim für Erwachsene mit einer psychischen Behinderung.
Später zog ich mit meiner Frau nach Bern und realisierte, dass mich eine Anstellung im stationären Bereich nicht mehr reizt. Ich erinnerte mich an die Spitex und wie sehr mir die Arbeit während der Ausbildung gefallen hat. Seitdem bin ich als Pflegefachmann im ambulanten psychiatrischen Setting tätig. Was bei der Spitex toll ist, ist die selbständige Arbeit. In meiner Anstellung bei den psychiatrischen Diensten Graubünden habe ich noch mehr Freiraum, da ich die ambulant-psychiatrische Pflege für insgesamt drei Spitex-Organisationen innehabe. Dennoch geniesse ich die Vorteile eines Angestellten.
Das aktive Zuhören fällt vielen schwer
Von der Ausbildung kann man viel für die eigene persönliche Entwicklung mitnehmen. Zum Beispiel die Gesprächsführung, das aktive Zuhören, das können nicht mehr viele. Natürlich sind auch die Krankheitsbilder sehr interessant. Die psychischen Erkrankungen der Realität haben wenig mit denjenigen zu tun, die wir in Filmen und Serien präsentiert bekommen.
Gewisse Menschen möchten keine Hilfe
Die zwischenmenschliche Chemie muss stimmen. Denn im Vergleich zum stationären psychiatrischen Setting bin ich in den Wohnungen der Klientinnen und Klienten – also bin ich zuerst einmal Gast. Das erfordert ein bewusstes und anderes Auftreten, da man auf die Zusammenarbeit angewiesen ist. Ich hatte wenige Einsätze, wo mein Gegenüber so ablehnend war, dass ich die Zusammenarbeit abbrechen musste. Es ist meistens offensichtlich, ob es einfach anfängliche Angst vor etwas Neuem ist oder eine totale Verweigerung. Letzteres merkt man sehr schnell. Gewisse Menschen möchten keine Hilfe und wenn man sie ernst nimmt, akzeptiert man auch das.
Hundertprozentige Flexibilität ist notwendig
Was typisch ist an meinem Arbeitsalltag? Ich nehme mir meistens Themen vor, die ich mit den Klientinnen und Klienten besprechen und daran arbeiten möchte. Und das Typische daran ist, dass das dann selten der Fall ist. Bei meiner Spezialisierung braucht es hundertprozentige Flexibilität, damit man auf die tagesaktuellen Bedürfnisse seines Gegenübers eingehen kann. Es gilt, die Ziele mit den Klientinnen und Klienten zu erreichen, ohne sie zu sehr zu steuern und einzuschränken.
«Bei meiner Spezialisierung braucht es hundertprozentige Flexibilität, damit man auf die tagesaktuellen Bedürfnisse seines Gegenübers eingehen kann.»
Ressourcen- anstatt defizitorientiert
Grundsätzlich braucht es für meinen Beruf die Freude am Gegenüber und am Menschen im Allgemeinen. In der Schule und im (Berufs-)Leben sind wir Menschen teilweise defizitorientiert. Das heisst, die Defizite stehen im Vordergrund und nicht die Ressourcen, die wir für uns nutzen können. Mein eigenes positives Weltbild hilft Menschen, die gerade vor einer Herausforderung stehen, diese einfacher bewältigen zu können. Ein Beispiel zum Abschluss: Ich habe einen Klienten, der einen Todesfall aufarbeitet und ihn fast nicht überwinden kann. Eigentlich hat er eine sehr schöne Grundeinstellung zum Leben. Ich fokussiere jetzt also nicht auf die Frage, warum kann er den Tod dieses nahen Menschen nicht überwinden, sondern darauf, was ihm hilft, dass er diesen konstruktiv in seinen Alltag einbinden kann und dass er den Todesfall als Teil seiner Biographie zu akzeptieren lernt.
*Hinweis: Die Höheren Fachprüfungen sind neu. Es gibt noch keine Absolventinnen und Absolventen dieser Spezialisierungen. Sie ergänzen die bisherigen Weiterbildungen mit einem eidg. Abschluss.